Kai Hermann: „Was denn nun, Genossen?“

Delegiertentagung des SDS: Die Revolte entläßt ihre Kinder

von Kai Hermann

Frankfurt am Main, im September

Geschwängert war die Luft von Havanna- und Roth-Händle-Rauch, theorieschwer die Diskussion — mit Resignation und Euphorie kämpften wortreich die übermüdeten Genossen. Der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) drohte der revolutionäre Atem auszugehen.

Da meldete sich artig eine Genossin im prallen Umstandskleid, dem Frankfurter Studenten-Idol Hans-Jürgen Krahl eine Zwischenfrage zu stellen. Ob er nichts zur Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft und insbesondere im SDS zu sagen habe, wollte sie wissen. Ehe der vielwissende Krahl noch hilflos mit den Schultern zucken konnte, antwortete sie für ihn, attestierte ihm autoritäre Ignoranz und nestelte dabei an einer Einkaufstasche. Sie hielt etwas Rotes in der Rechten, schleuderte dem wortgewandten Mann am Mikrophon erst den Satz entgegen „Du bist objektiv ein Agent des Klassenfeinds“ und dann ein paar Tomaten. Eine der Früchte traf den überraschten Krahl voll, die übrigen zerplatzten am — ausschließlich von maskulinen Genossen okkupierten — Präsidiumstisch.

Die Delegiertenkonferenz hatte ihren Höhepunkt. Die Sekunde der Wahrheit war angebrochen. Tomaten produzierten sozialistische Selbsterkenntnis. Der stellvertretende Vorsitzende Frank Wolff, der sich als einer der ersten wieder gefangen hatte, gestand ein: Familiäre Strukturen wiederholten sich im SDS, bürgerliche Mechanismen würden reproduziert. Schließlich war man sich verbal einig: Das Problem der Emanzipation sei im Verband so wenig gelöst wie in der Gesellschaft, das genitale Primat ungebrochen.

Klassenkampf im Ehebett

Die Mädchen, denen die flinken Fremdwörter der Kommilitonen bisher die Sprache genommen hatten, sagten es diesmal — nicht mit Tomaten — ganz deutlich: Das Leistungs- und Konkurrenzprinzip, das von der Theorie verdammt wird, sei auch im SDS allein Kriterium für Erfolg — und schließe die Frauen praktisch von der Mitarbeit aus. „Hier sprecht ihr vom Klassenkampf und mit euren Freunden vom Orgasmus.“ Den Klassenkampf gegen die Unterdrücker in die Ehebetten zu tragen, forderte ein fragiles Mädchen. Daß der SDS nichts als ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse sei, das wüßten die Genossen mit Kindern und gescheiterten oder nicht geschlossenen Ehen am besten.

Der Exkommunarde und verstoßene Genosse Fritz Teufel, von einer Schar weiblicher Fans fruchtlos bewundert, zielte mit einer Plastik-MP auf die Geschlechtsgenossen und zog Konsequenzen: „Ich bin dafür, daß alle Mädchen aus dem Verband ausgeschlossen werden, weil sie doch nur die patriarchalen Strukturen verschleiern. Sie kommen sowieso kaum zu Wort, und wenn, quatschen sie nur noch entfremdeter und blöder daher als die Männer.“ Der stets fröhliche Fritz mit den melancholischen Augen resignierte „Die Revolution kann nicht von Unterdrückern gemacht werden.“ Der Happening-Einlage konnte auch Kommunarden-Ulk nicht den bitteren Nachgeschmack nehmen. Zwar wurden die Mädchen nicht ausgeschlossen, zwar verließen sie doch nicht die Konferenz, zwar sanken viele der kampfbereiten Lysistratas ihren Helden schon bald wieder in die starken Arme, aber der Konflikt ließ sich kaum noch verdrängen.

Die Erkenntnis, daß sie die bessere Welt von morgen, von der sie träumen und für die sie provozieren, „nicht im eigenen Verband zu antizipieren vermögen“, sondern nur die verhaßte Gesellschaft reproduzieren, war hart. Nachdem man einmal begonnen hatte, übte man die höchste Tugend sozialistischer Bewegungen, Kritik und Selbstkritik, ohne Rücksicht auf das eigene Selbstbewußtsein. Ein Delegierter wies darauf hin, daß Emanzipation nicht allein das Problem der Mädchen im SDS sei. Die autoritären Syndrome im eigenen Verband seien nicht mehr wegzudiskutieren. Die Masse der Mitglieder hinge gläubig an den Lippen der „Genossen Autoritäten“ und glaube andererseits schon durch die Zugehörigkeit zum SDS den Kommilitonen überlegen zu sein. Elitebildung sei die Folge, Arroganz auch gegenüber Sympathisanten, die Etablierung einer neuen „autoritären Korporation innerhalb der Universität“.

Die „Genossen Autoritäten“ am Vorstandstisch klatschen in die Hände und beschlossen spontan, diese Selbstanklage allen Mitgliedern schwarz auf weiß zugänglich zu machen. Nein, ihre unbestechliche Ehrlichkeit ließen sich die sozialistischen Studenten auch und gerade in den Stunden ihrer Not nicht korrumpieren.

Einsichten aber gaben noch keine Therapie. Auch ein schwacher Versuch, Positionen weiträumig abzustecken, gelang kaum. Fünf Mitglieder der KP-Fraktion im SDS wurden vergeblich dem Selbstklärungsprozeß geopfert. Mit Zweidrittelmehrheit wurden sie aus dem Verband ausgeschlossen — nach quälenden Debatten. Die Anti-Autoritäten mußten sich schwertun in der Befreiung von den stalinistischen Querulanten — durch eine ihnen so verhaßte „administrative“ Maßnahme. Dabei hatte es ihnen die Reimann-treue Splittergruppe so leicht gemacht. Bei den Weltjugendfestspielen in Sofia hatte sie als Hilfstruppe der Geheimpolizei zum Schutze der amerikanischen Botschaft den SDS-Vorsitzenden Wolff verbläut, in Köln Hand an Barrikaden der Genossen gelegt. Die Okkupation der Tschechoslowakei durften sie nicht kritisieren. In Frankfurt verlasen sie Deklamatorisches, als sei Ulbrichts Sozialismus hier schon verwirklicht.

Doch um den Ausschluß zu vollziehen, bedurfte es erst jener „antikommunistischen Stimmung“, die der Berliner Rabehl konstatierte, und die ihren Höhepunkt erreichte, als Hohngelächter die Verlesung einer FDJ-Grußbotschaft. Die politische Auseinandersetzung mit der KP-Position habe nicht stattgefunden, klagte das Opfer der französischen Kommunisten, Cohn Bendit. Aber auch der große Lenin konnte ihm dabei mit seinem reichen Zitatenschatz nicht beistehen. Die Reprise der historischen Fraktionskämpfe in der revolutionären Arbeiterbewegung geriet zum rührenden Studententheater.

„Was machen wir denn nun, Genossen?“— dies wurde zum Leitmotiv der Konferenz. Über das, was im vergangenen Jahr geschehen ist, hätte nachgedacht werden sollen, um die Strategie für die Zukunft zu konzipieren. Über die Erfolge, die sie in die Krise geführt haben, mochten die Delegierten nicht mehr reden. Die Bewältigung der jüngsten Vergangenheit wurde erst gar nicht versucht, die Zukunft wurde der revolutionären Spontaneität anvertraut.

Teufels Ratschläge

In letzter Minute noch hatte der Bundesvorstand ein Objekt offensiver Aktionen mit linker Hand in die Diskussion gezaubert: die Bundeswehr. Die Delegierten forderten eine Analyse, die Motive und Strategie eines subversiven Kampfes gegen die Bundeswehr verdeutlichen sollte. Aber es gab keine Analyse — nur den spontanen Einfall, die Genossen aus der Frustration zu befreien. Da war dann von „Hochstapelei“ und „Windeiern“ die Rede. Die selbstkritischen Delegierten wollten niemanden in aussichtslosen Unternehmen „verheizen“.

Blieb allein die „Justiz-Kampagne“. Sie als offensive Aktion zu deuten, war eine der Selbsttäuschungen, auf die der SDS schließlich noch verfiel. In Wahrheit handelt es sich um eine Defensive. Es gibt kaum noch einen im SDS-Establishment, dem nicht mindestens einige Monate Gefängnis drohen und es gibt viele Hunderte im Fußvolk, die am Ende des nächsten Jahres wahrscheinlich einschlägig Vorbestrafte sein werden.

Ob aber nun Fritz Teufel den angeklagten Kommilitoninnen riet, den Richter sexy zu finden und während der Verhandlung abzuküssen, oder ob spektakuläre Sit-ins in Gerichtssälen gefordert wurden: Tatsächlich baut der SDS nicht auf die eigene revolutionäre Kraft, sondern auf die Liberalität der so „verachteten Öffentlichkeit“.

Es half nichts, die Delegiertenkonferenz um 24 Stunden zu verlängern. Am Ende von fünf Tagen und Nächten war kein neuer Bundesvorstand gefunden, keine einzige Resolution verabschiedet. Die permanente Kulturrevolution in den eigenen Reihen hat den SDS paralysiert.

Es scheint überhaupt nur noch zwei bedingt funktionsfähige Gruppen im Verband zu geben – in Westberlin und Frankfurt. Jedenfalls haben sich hier die „Genossen Autoritäten“ gesammelt, um die man sich scharen kann. In München erlaubte es die Totale Anarchie nicht auch nur Delegierte für die Konferenz zu wählen. In den Universitäten um Rhein und Ruhr sabotieren die agilen KP-Fraktionen jede revolutionäre Tat. Die Rechenschaftsberichte der Hamburger wurden von den Delegierten mit mitleidigen Gelächter quittiert. In Konstanz gibt es kaum mehr als ein Dutzend Genossen.

Man suchte nach neuen Organisationsformen und wollte doch von Organisation nichts hören. Der fehlende Kontakt zwischen den Gruppen wurde beklagt, und es wurde gleichzeitig gefordert, das „zentralistische Organ“ Bundesvorstand vollends zu entmachten.

Die deutsche Revolte entläßt ihr liebstes Kind den SDS. Die Avantgarde von gestern droht zu den Fußkranken des Protestes von morgen zu werden. Die „bürgerlichen Kritiker“ scheinen ebenso wie die etablierten Kommunisten mit ihren düsteren Prognosen für den SDS recht zu behalten. „Mögen die Genossen sich ausnahmsweise statt mit Lenin mit einem Hebbel-Wort trösten: „Die Philister haben manchmal recht – nur nie in den Gründen.“

(Quelle: Die Zeit, 20.9.1968)

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