Alice Schwarzer: Nachwort: Frauen gegen den § 218

1. Der § 218 als Faktor frauenspezifischer Unterdrückung

Zum ersten Mal reden Frauen. Und sie reden gemeinsam, weil die Solidarität ihre einzige Stärke ist. Zum ersten Mal in der Bundesrepublik lehnen Frauen sich aus eigener Initiative auf: gegen den staatlichen Zwang zur Mutterschaft. Sie verstoßen damit offen gegen ein Gesetz, das »von Männern für Männer gemacht« wurde (Anette M. aus Dortmund).

Während bisher sogenannte Experten, während Theologen, Mediziner, Juristen und Politiker über den »Beginn des personalen Lebens«, über die »Seele des Fötus«, die »bevölkerungspolitischen Aspekte« und das »zu schützende Rechtsgut« aus der Distanz debattierten, haben die direkt Betroffenen, die Frauen, bislang geschwiegen und gehandelt. Daß sie täglich zu Tausenden handeln, das heißt: heimlich abtreiben, haben die isolierten Frauen selbst in vollem Ausmaß erst nach dem Schock der Selbstbezichtigungs-Kampagne der Aktion 218 begriffen. Mit dieser Aktion haben Frauen sich offensiv und fordernd Gehör verschafft und den § 218 zum Politikum gemacht.

Diese Aktion ist die erste in Deutschland geführte Kampagne gegen das Abtreibungsverbot, die ausschließlich von Frauen initiiert wurde und hauptsächlich von ihnen getragen wird. Damit gewinnt die Diskussion um die Abtreibung neue Inhalte. Frauen sind nicht länger gewillt, Abtreibung als ihre individuelle Misere hinzunehmen, sondern sie beginnen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu sehen — wobei klar wird, daß der Gebärzwang eine der Hauptstützen der frauenspezifischen Unterdrückung ist. Wie komplex seine Auswirkungen in dieser Gesellschaft für die Frau sind, kann nur von Frauen erfahren und nur von ihnen vermittelt werden. Dazu will dieser Band beitragen.

Die Protokolle sind das Ergebnis von Gesprächen, die ich im Juni und Juli 1971 mit achtzehn Frauen unterschiedlichen Alters, verschiedener sozialer Herkunft und differierenden Bewußtseinsstandes geführt habe. Keine dieser achtzehn Frauen stellt innerhalb ihres Milieus einen »besonders krassen Fall« dar; keine ist eine Ausnahme, alle entsprechen der Regel. Sie führen ein Leben, das auf den ersten Blick intakt zu sein scheint. Bis auf zwei hatten sich alle diese Frauen bereits vor diesen Berichten öffentlich der Abtreibung bezichtigt und mit der Aktion 218 die bedingungslose Streichung des § 218 gefordert. Wie ihre Lebensläufe zeigen, sind die meisten dieser Frauen damit zum ersten Mal überhaupt über ihren unmittelbaren Lebensbereich hinaus aktiv geworden. Keine andere Forderung hat sie bisher mobilisieren können. Das provozierende, sich mit dem anderer Frauen solidarisierende Bekenntnis war ihr erster Schritt zur Rebellion.

Frauen fordern. Schon das ist ungewöhnlich. Und sie klagen an. In einer Gesellschaft, die die kollektive Verantwortung für die Menschenreproduktion auf die einzelne Familie abschiebt, und in der innerhalb dieser Familie der Mann – unterstützt von der herrschenden Ideologie – der Frau die Verantwortung aufbürdet, in dieser Gesellschaft muß der Zwang zur Mutterschaft zum Werkzeug der spezifischen Unterdrückung der Frau werden. In welchem Ausmaß sich der Mann bei der Ausbeutung der Frau nicht nur zum Handlanger des Systems machen läßt, sondern darüber hinaus auch persönlich profitiert, zeigen die Protokolle. Väter, Ehemänner und Freunde spielen darin eine äußerst fragwürdige Rolle.

Elf der achtzehn Frauen sind verheiratet und stehen nicht im außerhäuslichen Produktionsprozeß, das heißt, sie leisten ausschließlich Gratisarbeit im Haus und sind materiell völlig vom Ehemann abhängig — abhängig, weil Kleinkinder Mütter ans Haus binden, wenn es keine Krippenplätze, keine Kindergärten, keine Ganztagsschulen gibt, und wenn Väter sich nicht für die Erziehung ihrer Kinder mitverantwortlich fühlen. Diese Abhängigkeit wird vom Mann schamlos ausgenutzt. Wie klar der Zusammenhang zwischen materieller Abhängigkeit vom Mann und Unterdrückung durch den Mann auch der dumpf duldenden Frau ist, zeigen in den Protokollen die Beispiele der geschiedenen und der nach geldbringendem Erwerb drängenden ans Haus gefesselten Frauen.

Bewußt geht nur Margarete S. »aus Überzeugung nicht arbeiten«. Sie hat erfahren müssen, daß »die Verkäuferinnen Sklavinnen ihrer Substitute sind«. Doch auch sie wagt die materielle Abhängigkeit vom Ehemann nur in der scheinbaren Gewißheit, daß sie »jederzeit wieder arbeiten könnte, wenn es sein müßte«. Für die Mehrheit der Frauen aber wiegt die häusliche Unterdrückung so schwer, daß sie gern bereit wären, sich mit der zusätzlichen Ausbeutung im außerhäuslichen Produktionsprozeß zumindest dem eigenen Mann gegenüber ein wenig Bewegungsfreiheit und Selbstbestätigung zu erkaufen.

Mütter von Kleinkinder haben, wie gesagt, diese Möglichkeit nicht. Mütter müssen sich, so wie Margot M., von ihrem Mann schlagen und verhöhnen lassen (»Geh doch, du kannst ja dann sehen, wie du satt wirst!«); Mütter müssen, so wie Inge M., unter Ekel mit ihrem Mann ins Bett gehen, denn »einmal in der Woche werde ich halt doch müssen, sozusagen. Denn sonst würde er ja vielleicht doch mal zu einer anderen gehen. Und was würde dann aus mir und den Kindern?« Was Inge M. übrigens nicht hindert, ihre Ehe für eine »glückliche Ehe« zu halten. Es gibt eben Schlimmeres.

Sexuelle Unterdrückung und materielle Abhängigkeit bedingen sich wechselseitig. Um dem zu entgehen, geht die bereits vatergeschädigte Roswitha D. aus Düsseldorf unbewußt so weit, sich in die Homosexualität zu flüchten – obwohl sie »rein sexuell einen Mann nicht ablehnt« (und ja auch schwanger wurde), fühlt sich Roswitha D. »einfach freier bei einer Frau«.

Das Erzwingen von »Sex« für Sicherheit ist ebenso unabhängig von der sozialen Schicht wie die Exklusivität der Frauen-Verantwortung für die Kinder. Proletarier wie Bourgeois setzen sich am Feierabend – am Männer-Feierabend – vor den Fernseher und empfinden die Kinder bestenfalls »nicht als Belastung« — was von den Frauen schon dankbar als »positiv« notiert wird (Anette M.); im schlechtesten, aber nicht seltenen Fall prügeln Männer »ihre« Frauen und Kinder.

Für Abtreibungen halten Männer sich ebensowenig zuständig wie für Kinder und Schwangerschaften. Schwangerschaften sind »ihre Schuld«, da hat »sie nicht aufgepaßt«. Bei den insgesamt 43 Abtreibungen, die in den Berichten geschildert werden, war nur in einem einzigen Fall — in dem der Edda A. aus München — der Mann während der Abtreibung Beistand und Hilfe; in allen anderen Fällen reicht die Skala der männlichen Reaktion vom Abstreiten der Vaterschaft über gewalttätige Wutausbrüche gegen die Schwangere oder zögernde Minimalhilfe bis zum totalen Desinteresse und bis zur Ignoranz – die auch von der Frau selbst längst nicht mehr gestört wird: sie hat Erfahrungen gesammelt und löst das Problem der unerwünschten Schwangerschaft allein, und sie löst es unter den widrigsten Umständen. Frauen treiben ab, nichts kann sie daran hindern — nicht die vom Gesetz angedrohte Strafe, nicht die moralische Ächtung und auch nicht die Gefahr für Gesundheit und Leben. Sie tun es unter gefährlichen Bedingungen, in Kenntnis der weitreichenden Folgen einer Mutterschaft, denn für sie bedeutet Mutterschaft oft soziale Isolation auf Jahre hinaus und materielle Abhängigkeit vom eigenen Mann, wenn sie verheiratet ist. Die ledige Mutter hat mit der noch stärkeren Abhängigkeit am Arbeitsplatz zu rechnen; sie kann sich keine Gefährdung ihres regelmäßigen Einkommens erlauben, und sie muß, in einer Männer-Arbeitswelt, die nach männlichen Spielregeln funktioniert, auf die Nach- und Einsicht ihres Chefs hoffen (Feierabend um fünf Uhr, weil die Kinderkrippe schließt, Sonderurlaub, weil das Kleine die Masern hat etc. etc).

Macht materielle Not die außerhäusliche Arbeit der Mutter trotz ihrer häuslichen Verpflichtungen notwendig, so ist der Zusatzverdienst nicht ein befreiendes, sondern ein zusätzlich lähmendes, weil doppelt belastendes Moment.

Und die sogenannte privilegierte Frau? In welch schizophrene Situation sie mit dem Wunsch nach einem Kind geraten kann, zeigt das Beispiel der Irene B. aus Hannover, die, angesichts der Folgen (»das wäre dann ja alles nicht mehr drin«), keine bewußte Mutterschaft wagt, sondern in dieser Zwangslage russisches Roulette spielt: sie »vergißt« einfach die Pille. Kein Zweifel, die sogenannte privilegierte Frau ist nicht weniger elementar von der Mutterschafts-Misere betroffen. Auch sie ist ihrem Mann ausgeliefert – wenn auch die augenblickliche materielle Situation weniger hart ist. Ellen S. aus Hamburg möchte »heute ganz gern wieder was tun, aber nicht in meinem alten Beruf«, weil ihr alter Beruf nämlich gar kein Beruf ist. Er war für sie, wie für fast alle Frauen, nicht mehr als ein Schauplatzwechsel: private Dienerin des Mannes ohnehin, wird sie nun auch seine berufliche. Sie kocht den Kaffee nicht mehr nur in der Küche, sondern auch im Büro für ihn – wobei Büroarbeit noch zu den privilegierten Verdienstmöglichkeiten für Frauen gehört.

Auch die Frauen der oberen Schichten sind gezeichnet von der unzureichenden Ausbildung, der langen beruflichen Abstinenz und dem Makel ihrer Geschlechtsrolle. (Die in den Illustrierten paradierenden »Schönen, Jungen und Erfolgreichen« sind Ausnahmen und besagen nichts für die Regel.) Nichts diskriminiert stärker als das Geschlecht, nicht einmal die Rasse. Schwarze männliche Amerikaner zum Beispiel verdienen immer noch mehr als weiße weibliche Amerikaner – obwohl die Ausbildung der schwarzen Männer noch schlechter ist als die der weißen Frauen. Am allerwenigsten verdient man, wenn man schwarz ist und eine Frau.

In der Bundesrepublik liegen die Dinge nicht anders. Hier beträgt die Einkommenskluft zwischen den berufstätigen Männern und Frauen exakt 31 Prozent. Frau sein heißt also heute, zwar eventuell privilegiert sein, aber auch dies nur auf Zeit und von des Mannes Gnaden. Will die Frau sozial »oben« bleiben, so muß sie sich dem Mann fügen – tut sie das nicht, »dann kann sie ja sehen, wie sie satt wird«. Wie lange noch? Was von Inge M. aus Freiburg noch fatalistisch hingenommen wird, das hat Martha T. aus München bereits rationalisiert: Sie begreift sich in ihrem Verhältnis zu ihrem Ehemann als »Ein-Mann-Hure«. Die Mehrheit der Frauen leidet am meisten unter dem ihr nächsten Unterdrücker: dem Mann.

In einer Gesellschaft, in der der Zwang zur Mutterschaft – bewußt oder unbewußt — eine der zentralen Stützen der männlichen Domination ist, muß die konsequente Revolte gegen diesen Zwang ebenso zwangsläufig zur Revolte gegen die Herrschaft der Männer und damit gegen die von Männern repräsentierte Gesellschaft werden. Am Beispiel des Gebärzwangs können Frauen in der Verstrickung ihrer doppelten Unterdrückung ansetzen: gegen eine Gesellschaft, die alle Männer gegen alle Frauen ausspielt und in der Männer wiederum alle Frauen gegen alle Frauen ausspielen. Am Ende findet sich die einzelne Frau isoliert in ihren vier Wänden der doppelten Ausbeutung ausgeliefert, wobei aus ihrer Sicht, nach jahrtausendelanger Konditionierung, der Unterdrücker Mann für sie die einzige Chance in dieser Gesellschaft überhaupt zu sein scheint — so wie für den Sklaven die Gunst des Herrn.

Die Frau, die abtreibt, revoltiert nicht; sie handelt passiv. Denn Abtreibung ist nicht eine die Initiative ergreifende Vorbeugung, sondern der letzte Ausweg. Bedenkt man das, so ist es nicht überraschend, daß zwar – nach realitätsnahen Schätzungen — jede zweite Frau in der Bundesrepublik abtreibt, aber nur jede fünfte das einzig sichere Verhütungsmittel, die Pille, nimmt. Die Beseitigung des § 218 ist darum eine der Hauptvoraussetzungen für die Selbstbestimmung der Frau überhaupt. Dafür liefern die Protokolle ein klares Indiz. Erst wenn die Frau nicht mehr unter der Demütigung der heimlichen Abtreibung und der lähmenden Angst vor der unerwünschten Mutterschaft mit all ihren Folgen leben muß, kann sie den Kopf erheben und weiterblicken.

2. Die Situation in der Bundesrepublik vor der Aktion 218

Auf 30 Millionen im Jahr schätzte 1965 die UNO die Abtreibungsziffer, und Professor Giese schrieb dazu: »Abtreibung ist nicht, wie das Gesetz glauben machen kann, Angelegenheit einer kriminellen Minderheit, sondern ein beinahe universelles Vorkommnis in allen Bevölkerungsschichten. Eine verbreitete Methode der Geburtenregelung, wenn die anderen Methoden versagt haben.«

Nicht in allen Ländern und Kulturen allerdings macht das Gesetz abtreibende Frauen zu Kriminellen. Ein mohammedanischer Fötus zum Beispiel wird erst am 120. Tag zum schützenswerten menschlichen Lebewesen, ein japanischer, wenn er das Tageslicht erblickt. Bis zu diesem Zeitpunkt stellt die Unterbrechung der Schwangerschaft weder ein moralisches noch ein juristisches Problem dar. Ebenso war es in den meisten primitiven Gesellschaften. Das Abtreibungsverbot kam in unsere Breitengrade erst mit den christlichen Missionaren. In seiner augenblicklichen Konsequenz allerdings ist es selbst innerhalb der katholischen Kirche relativ neu. Vor dem Verdikt von Papst Pius IX. im Jahre 1869 erhielt nach katholischem Glauben der männliche Fötus seine Seele am 40. Tag nach der Zeugung, der weibliche am 80. Tag.

Weniger spekulativ sind die Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft. Wann beginnt »das Leben«? Die Auskunft des Mainzer Biologen Gottfried Kellermann lautet: »Zunächst muß man feststellen, daß die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens schon im Ansatz falsch gestellt ist. Denn menschliches Leben kommt auch der mütterlichen Eizelle und der väterlichen Samenzelle zu. Und dieses Leben setzt sich kontinuierlich fort.« Leichter läßt sich nach Kellermann die Frage nach dem Beginn »menschlicher Individualität« beantworten, die er mit der Ausbildung des Großhirns festlegt, welche in aller Regel am 40. Tag nach der Befruchtung abgeschlossen sei.

1871 wurde das Gottesgesetz auch Staatsgesetz. Hundert Jahre später aber hat sich die Liaison von Kirche und Staat gelockert und ist, vor allem, das staatliche Hauptmotiv für den Gebärzwang — nämlich das bevölkerungspolitische — fortgefallen. Der Bedarf an Arbeitskräften und Arbeitslosen läßt sich in kapitalistischen Staaten bedeutend flexibler durch die Ein- und Ausfuhr von Gastarbeitern regeln. Zum materiellen kommt das psychologische Moment hinzu. Frauen empfinden zunehmend stärker und bewußter den Druck des Gebärzwangs. Die herrschende Macht muß also ein Interesse an der Lockerung des für sie längst sinnentleerten Verbotes haben. Darum kann ein kapitalistischer Staat sich die Liberalisierung oder Abschaffung des Gebärzwangs nicht nur leisten, er muß sogar an ihr interessiert sein.

England und New York zogen die Konsequenzen, andere Länder liberalisierten das Abtreibungsverbot, und auch in der Bundesrepublik gab es ähnliche Ambitionen. Als die SPD-FDP-Regierung im Herbst 1969 ihre Arbeit aufnahm, gehörte der § 218 zu ihrem »Reformen-Paket«. 1970 meldete der Parlamentarische Pressedienst, Bonn erwäge eine »eventuelle Freigabe der Abtreibung bis zum dritten Schwangerschaftsmonat« und ihre Durchführung »in Kliniken bei voller Kostenübernahme durch die Krankenkassen«. Eine weitgehende Lockerung des Abtreibungsverbots wurde in Parteien und Institutionen diskutiert. Die SPD-Frauen forderten die Aufhebung des Verbots, und der Juristinnenbund verlangte »weitgehende Straffreiheit«, weil »der Paragraph 218 nicht mehr dem Rechtsbewußtsein weiter Kreise der Bevölkerung entspricht«. Tatsächlich wurden 1969 nur noch 276 Frauen in der Bundesrepublik und in Westberlin für Selbstabtreibung vor den Richter zitiert und zu Minimalstrafen verurteilt. 1965 waren noch 802 Frauen verurteilt worden, 1955 noch 1033 – die Justiz selbst mochte ihr Gesetz kaum noch anwenden. Längst war es zu einem Stillhalte-Abkommen zwischen Gesetz und Realität gekommen: zwischen einer halben bis zwei Millionen heimlicher Abtreibungen im Jahr und einer Legislative, die Selbstabtreibung mit Strafen bis zu fünf Jahren Gefängnis bedroht. Selbst ein Teil der Ärzte schien bereit, medizinische Kompetenz nicht länger zur moralischen Bevormundung der Frau zu mißbrauchen. Auf die Frage, ob Abtreibung weiterhin bestraft werden oder straffrei bleiben sollte, antworteten bei einer Infratest-Umfrage 1970 von 243 befragten praktischen Ärzten 125 mit »soll straffrei bleiben«. Damit war mehr als die Hälfte gegen den § 218. Bundesrepublikanische Gynäkologen hingegen sagten 1971 zu 94,28% »Ja« zu der suggerierenden Feststellung, die »Tötung eines Embryos« sei »Vernichtung eines Rechtsgutes und daher nur aus schwerwiegenden Gründen zu verantworten«. Dieselben Ärzte behielten sich gleichzeitig das Recht vor, im Rahmen der sogenannten sozialen Indikation für die Frau zu bestimmen, wann Abtreibung Tötung sei und wann nicht. — Einer der Gründe für die unterschiedliche Einstellung der Frauenärzte und der praktischen Ärzte zu dieser Frage ist in ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft zu sehen: Von den konservativen Fachärzten stammen weit mehr aus der Oberklasse als von den praktischen Ärzten.

Innerhalb des Gynäkologenstandes, dessen ältere Generation im Dritten Reich ausgebildet wurde, beginnt sich bei den Jüngeren heute ein Meinungswandel abzuzeichnen. Sie erkennen die wissenschaftliche Fragwürdigkeit des Abtreibungsverbotes und seinen politischen Charakter. Es gibt heute Großstadtkrankenhäuser, in denen junge Gynäkologen bei hilfesuchenden Frauen systematisch künstliche Komplikationen provozieren, um dann einen legalen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können. – Neben sozialem Status und Alter spielen Wohnort und Konfession eine Rolle. Bayerisch-katholische Ärzte denken anders über Abtreibung als norddeutsch-protestantische. Die vom Gesetzgeber eng formulierte Ausnahme der »Lebensgefahr der Mutter« legt zum Beispiel die Hamburger Ärztekammer recht großzügig aus; sie bewilligte 1970 von 1485 Anträgen auf Schwangerschaftsabbruch 1385, das sind 93 Prozent. An der Spitze der Gründe, die einen legalen Eingriff nach Meinung der Hamburger ermöglichten, lagen mit 25 Prozent »Psychosen und Depressionen«. Drei Viertel der 1385 Frauen waren verheiratet. Wo die Hamburger Ärztekammer im Ärzteblatt bereitwillig Auskunft gibt und die Ärztekammer Schleswig-Holstein »eine ausweitende Tendenz, Anträge auf Schwangerschaftsabbrüche aus psychiatrischen Gründen zu begründen« konstatiert, verweigert die Bayerische Ärztekammer zur selben Frage die Auskunft.

»Rein medizinisch gesehen ist eine Abtreibung bis zum dritten Monat nicht gefährlicher als eine Geburt«, gab, Ärztekammer-Präsident Erich Fromm zu. In der Tat ist die fachgerechte Schwangerschaftsunterbrechung weit weniger riskant als die Geburt. Bei 140 000 legalen Unterbrechungen meldete die Tschechoslowakei keinen einzigen Todesfall. Mit dem neuen, auch in England gebrauchtem Unterdruckgerät, das wie ein Staubsauger arbeitet, ist der Eingriff innerhalb von zwei Minuten durchgeführt. Das Unterbrechen einer Schwangerschaft ist, medizinisch gesehen, geringfügiger als das Herausnehmen der Mandeln. Die Mär von der Sterilität nach der Abtreibung wurde durch vergleichende Untersuchungen in Schweden und in den sozialistischen Ländern widerlegt. Derlei Informationen werden jedoch den Frauen in der Bundesrepublik geschwätzig verheimlicht. Sie zwingt ein sinnentleertes Gesetz weiter in den lebensgefährlichen und demütigenden Untergrund, denn der § 218 kann Abtreibungen zwar verbieten, aber verhindern kann er sie nicht. Jede Frau, die vom Arzt abgewiesen wird, begibt sich in die Hände von Kurpfuschern oder – wenn sie Geld und Beziehungen hat – in die bundesdeutscher bzw. ausländischer Ärzte. Das gilt auch noch 1971, zwei Jahre nach dem von der Regierung bekundeten Reformwillen. Warum das so ist, meldete am 14. März 1971 nicht ohne Stolz die Bildpost, ein katholisches, in Kirchen zu erwerbendes Boulevardblatt: »Demnächst wird ein neuer Gesetzentwurf vom deutschen Bundestag debattiert werden. Schon heute aber ist klar, daß der entscheidende Widerstand, nicht zuletzt der Kirchen, dazu geführt hat, daß von den Vorschlägen der SPD-Frauenkonferenz, die den Paragraphen völlig gestrichen sehen wollte, ebensowenig mehr gesprochen wird, wie von den Forderungen der Humanistischen Union und der Jungsozialisten, die eine Straffreiheit der Abtreibung während der ersten drei Monate gefordert hatten.« Vorausgegangen war eine in der Bundesrepublik beispiellose katholische Kampagne für die Erhaltung des § 218. In zahlreichen Bistümern wurden sonntägliche Protestsammlungen eingeleitet, die »action 365« und die Kolpingfamilie sammelten mit, und eine Schlagzeile des Passauer Bistumsblattes lautete: »Minister Jahn will Mord legalisieren«. Bundesjustizminister Jahn bekam prompt den katholischen Protest »waschkörbeweise« ins Haus am Venusberg geschickt. Allein die Bildpost-Leser sandten 12 000 Ausschneide-Coupons an den »Herrn Bundesminister Dr. Gerhard Jahn«. Und Minister Jahn ließ sich nicht lange bitten. Geschwächt von den bei der Reform des Scheidungsrechts und des Pornographieverbots gesammelten Erfahrungen, zeigte er sich bereit, gegen die Interessen der — damals noch schweigenden – Hälfte der Wählerschaft, der Frauen, dem katholischen Verlangen nachzugeben. Am 11. Januar 1971 ließ der Minister seinen Referenten Gessler in einem hektographierten Schreiben die Protestierenden beschwichtigen: »Was die Reform der Strafbestimmungen über die Schwangerschaftsunterbrechungen angeht, so besteht hierüber ein weitverbreitetes Mißverständnis. Ein Gesetzentwurf hierzu liegt erstens überhaupt nicht vor. Zweitens ist im Bundesministerium der Justiz auch keineswegs geplant, die Schwangerschaftsunterbrechung bis zum 3. Monat freizugeben. [. . .] Welche Fassung unser Entwurf haben wird, läßt sich zur Zeit noch nicht absehen. Man könnte zum Beispiel an die Fälle denken, in denen die Schwangerschaft auf einer Vergewaltigung beruht. [. . .] Wir befinden uns noch im Stadium der intensiven Beratung, in die Sachverständige wie auch Kirchen mit einbezogen sind.« Demnach soll Kirchengesetz Staatsgesetz bleiben in der Bundesrepublik. Breiten Bevölkerungsschichten war das Manöver entgangen, sie waren auch jetzt noch Opfer des »Mißverständnisses« und glaubten, die Abschaffung des § 218 stehe bevor.

3. Die Aktion 218. Eine Zwischenbilanz

Das war die Situation, in der die Aktion 218 einsetzte und — sieht man einmal von den lokal begrenzten Aktionen der Humanistischen Union und der Frauenaktion 70 ab — innerhalb eines Monats bis zur Veröffentlichung der ersten 374 Selbstbezichtigungen von Frauen sich entfaltete. (Die Möglichkeit und Wirkung einer solchen Aktion hatte sich einen Monat zuvor in Frankreich erwiesen.) Hinzu kam, daß bereits im Anfangsstadium der Aktion die Illustrierte Stern prinzipiell zugesagt hatte, einen eventuellen Selbstbezichtigungs-Appell mit dem vollständigen Text und 300 bis 400 Namen der Frauen in einem angemessenen Kontext zu veröffentlichen.

In Frankreich ist die Kampagne das Werk der »Bewegung zur Befreiung der Abtreibung«, die zu Beginn des Jahres 1971 von der revolutionären, allein in Paris etwa 600 aktive Frauen zählenden »Bewegung zur Befreiung der Frauen« initiiert worden war. Die Abtreibungs-Kampagne war in Frankreich von Anfang an im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang als Ansatzpunkt zur konkreten Emanzipationsarbeit konzipiert. Das gleiche gilt für die deutsche Kampagne, wie bereits der Text des Appells zeigt: »Jährlich treiben in der Bundesrepublik rund 1 Million Frauen ab. Hunderte sterben, Zehntausende bleiben krank und steril, weil der Eingriff von Kurpfuschern vorgenommen wurde. Von Fachärzten gemacht, ist die Schwangerschaftsunterbrechung ein einfacher Eingriff. Frauen mit Geld können gefahrlos im In- und Ausland abtreiben. Frauen ohne Geld zwingt der Paragraph 218 auf die Küchentische der Kurpfuscher. Er stempelt sie zu Verbrecherinnen und droht ihnen mit Gefängnis bis zu fünf Jahren. Trotzdem treiben Millionen Frauen ab — unter erniedrigenden und lebensgefährlichen Umständen. Ich gehöre dazu. – Ich habe abgetrieben. Ich bin gegen den Paragraphen 218 und für Wunschkinder. Wir Frauen wollen keine Almosen vom Gesetzgeber und keine Reform auf Raten! Wir fordern ersatzlose Streichung des§ 218 und umfassende sexuelle Aufklärung für alle und freien Zugang zu Verhütungsmitteln! Wir fordern das Recht auf die von den Krankenkassen getragene Schwangerschaftsunterbrechung! «

Diesem Text ging bei der Sammlung der ersten 374 Unterschriften der folgende Informationstext voraus: »Die Selbstanklage (>Ich habe abgetrieben<) der 343 Französinnen, verbunden mit einem Appell für die Freigabe der Abtreibung, hatte und hat ein unerhört heftiges Echo auf nationaler und internationaler Ebene. Spontan unterschrieben in den ersten Wochen weitere tausend Frauen aus allen sozialen Schichten den Appell. Männer solidarisierten sich — Hunderte zeichneten in wenigen Tagen: >Ich war Komplize einer Abtreibung.< Gerade wurde ein erster Aufruf von Ärzten für die Freigabe der Abtreibung veröffentlicht, gezeichnet von 230 Ärzten, darunter 24 Universitätsprofessoren. Damit ist der in Frankreich seit Jahrzehnten umstrittene Abtreibungsparagraph (bis zu 2 Jahren Gefängnis bei Selbstabtreibung) erstmals in seiner ganzen Skandalosität ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Obwohl das französische Gesetz bei Selbst- und Fremdabtreibung den gleichen Verfolgungszwang kennt wie das deutsche, d. h. der Staatsanwalt müßte ermitteln, aber nicht zwangsläufig auch Anklage erheben, haben bis heute, einen Monat nach Veröffentlichung, weder Justiz noch Regierung reagiert. Die Stärke der Französinnen ist ihre große Zahl und der Entschluß, auf eventuelle Verfolgung einzelner kollektiv zu reagieren. Hinzu kommt die öffentliche Meinung. Drei Wochen nach dem Appell ergab eine Umfrage: 55% aller Befragten sind für eine ersatzlose Streichung des Abtreibungsparagraphen. Noch wenige Monate zuvor hatten nur 25% »gewagt, sich dazu zu bekennen. >Zum ersten Mal wurde die Mauer des Schweigens durchbrochen<, schreiben die 343. >Jetzt müssen wir sie ganz einreißen.< Wir denken, daß diese Aktion nicht auf Frankreich beschränkt bleiben sollte. Auch in der Bundesrepublik besteht eine unerträgliche Kluft zwischen Realität und Gesetzgebung. Hier verjährt Selbstabtreibung nach 5 Jahren. Hätten heute alle Frauen den Mut zur Selbstanzeige, würde eine Flut von 5 Millionen Prozessen auf die deutsche Justiz zurollen. Doch längst scheut selbst die Justiz, ihr noch gültiges Gesetz anzuwenden: Von der Million abtreibender Frauen jährlich werden nicht mehr als ein paar Hundert vor den Richter zitiert. [. . .] Unser Appell kann nur sinnvoll sein, wenn er nicht auf wenige Unterschriften beschränkt bleibt. Er muß zur Massenbewegung werden! Im ganzen Land sollten sich Frauen solidarisieren und Unterschriften sammeln.«

Das einzige Problem war, daß es – im Gegensatz zu Frankreich – keine zentrale Frauengruppe in der Bundesrepublik gab, die zu diesem Zeitpunkt stark genug gewesen wäre, diesen Appell zu tragen. Ich selbst habe die ersten Unterschriften gesammelt und die Gruppen miteinander in Kontakt gebracht. Von Beginn an übernahmen der Sozialistische Frauenbund Westberlin und eine Teilgruppe der Münchener Emanzipationsgruppe die Kampagne. Andere sozialistische und liberale Frauen zögerten. Vergeblich wurden Frauen der FDP, SPD, DKP und des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Mitarbeit aufgefordert. Obwohl zumindest die SPD – und die Gewerkschaftsfrauen sich längst offiziell gegen den § 218 ausgesprochen hatten, erteilten die parteigebundenen und gewerkschaftlich organisierten Frauen der Aktion in diesem Stadium eine Absage. So kam es, daß die ersten 374 Unterschriften etwa zur Hälfte von den beiden sozialistischen Frauengruppen eingebracht wurden, zur anderen Hälfte aber von einzelnen Frauen, die nach dem Schneeballsystem mehr oder weniger willkürlich in Stadt und Land aufmerksam gemacht worden waren. Ein Großteil dieser Frauen ist in keiner Weise privilegiert oder politisch prädisponiert, die meisten kommen aus der unteren und der oberen Mittelschicht.

In Städten, in denen noch die Rudimente von Frauengruppen für Emanzipationsfragen, antiautoritäre Kindergärten etc. vorhanden waren, bildeten sich noch in den Maiwochen vor der Publikation des Appells der 374 neue Frauengruppen, so zunächst in Köln und in Düsseldorf. Die Gruppen sahen von Anfang an den Kampf gegen den § 218 im Zusammenhang mit den Emanzipationsbestrebungen der Frau überhaupt. Es bildeten sich innerhalb der Aktionsgruppen parallel zu den Arbeitsgruppen »Abtreibung« auch Arbeitsgruppen »Emanzipation«. Nach der Veröffentlichung des Appells Anfang Juni im Stern entstanden spontan weitere solcher Frauengruppen in anderen Städten, zum Beispiel in Hamburg und Stuttgart.

Die Springerpresse, die sofort gegen die Aktion polemisierte, mußte nach wenigen Tagen kapitulieren und ging von groß aufgemachter, auch vor grober Manipulation (angebliches Dementi der Schauspielerin Vera Tschechowa) nicht zurückschreckender Stimmungsmache gegen die Aufhebung des Abtreibungsverbotes und gegen die Aktion abrupt zu nicht minder auffälligem Schweigen über — um dann, nach längerer Pause, mit einem moderierten Für-und-Wider die Berichterstattung fortzusetzen. Der Versuch der Springerpresse, die Kampagne als »Prominenten-Gag« zu verleumden, war bei den Frauen nicht »angekommen«, ebensowenig die Verniedlichung und Verharmlosung der Abtreibungsmisere (Bild: »Protest kommt 10 Jahre zu spät«). Der Rest der Massenmedien reagierte, von der Zeit bis zur Neuen Post (die katholische und rechte Presse einmal ausgenommen), verhalten positiv auf die Aktion 218 ; gemeinsam war ihnen, daß sie das Problem der Abtreibung ziemlich einseitig abhandelten. So beschränkten sich die bürgerlichen Blätter auf den juristischen und den medizinischen Aspekt, die Boulevardzeitungen auf Horrorgeschichten und Prominenten-Kolportage. Von der politischen Bedeutung der Aktion war nicht die Rede. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch das Verhalten der beiden überregionalen linksliberalen Tageszeitungen, die beide die Berichterstattung über die Aktion zunächst auf die »bunte Seite« verwiesen. Später kommentierten Redakteure (männliche) die Aktion hämisch als »Exhibitionismus« (Süddeutsche Zeitung), »Konsumwahn« und »Vernichtung unwerten Lebens« (Frankfurter Rundschau) – ganz im Sinne Kardinal Jägers, der im Zusammenhang mit der Aktion 218 von einem »neuen Euthanasieprogramm« sprach. Eine der wenigen Zeitungen, die vom ersten Tag an versuchten, der Bedeutung der Aktion gerecht zu werden, war die Münchener Abendzeitung – sie ist in den Händen einer Frau.

Nach dem Schock der Aktion zeigte sich im Juni und Juli 1971 immer klarer, daß die ernst zu nehmenden Gegner der Aktion nicht der sich selbst demaskierende Klerus und nicht reaktionäre Juristen und Mediziner sind, sondern die sogenannten Reformer – die die Reform im Munde, aber die Fortsetzung der Bevormundung der Frau im Schilde führen, die weder dumm noch starr genug sind, an dem § 218 in seiner augenblicklichen Form festhalten zu wollen, die aber im Namen eines obskuren Expertentums auch nicht gewillt sind, die Entscheidungsgewalt der Männer aus der Hand zu geben – Männer wie der Richter Woesner, der vor der Behauptung nicht zurückschreckte, die »hilflose Schwangere« werde den »fundierten Rat des Klinikarztes« sicherlich »befolgen« (Spiegel Nr. 17, 1971), der Arzt solle daher über das Für und Wider einer Mutterschaft entscheiden. Wie anmaßend und realitätsfremd solche »Reform« – Vorschläge sind, zeigt der Alltag von Millionen Frauen, zeigen die in diesem Band publizierten Berichte.

Solche »Reform« will nichts ändern an den bestehenden Verhältnissen, sie versucht vielmehr, diese zu kaschieren. Die Aktion 218 wird dafür sorgen müssen, daß in der Atmosphäre der aufgebrochenen Diskussion über den Gebärzwang einerseits und der mangelhaften politischen und medizinischen Information andererseits solche Reform-Vorschläge den Bürger nicht länger irreführen können, daß niemand die Aktion 218 mit der auf Parteigelder spekulierenden »Initiative 218« verwechseln kann, die — so ihr undemokratisches Programm – die Diskussion wieder »von der Straße herunterholen« will.

Sechs Wochen nach Veröffentlichung des Appells der 374 bestätigte die Aktion 218 auf ihrem zweiten Bundestreffen am 10. Juni in Frankfurt die Forderung nach bedingungsloser Streichung der §§ 218-220; weiterhin strafbar soll die Fremdabtreibung durch Laien bleiben. Die in Diskussionen immer wieder auftauchende Frage der Selbstabtreibung in späten Monaten ist ein medizinisches, kein strafrechtliches Problem. Die neuerdings propagierte Drei-Monats-Grenze ist willkürlich (New York zum Beispiel hat die Abtreibung bis zum sechsten Monat freigegeben). Auch ist es zynisch anzunehmen, daß eine Frau bei legalisierter Abtreibung länger als zwei, drei Monate abwarten würde. Die bekannten Fälle (und auch die hier berichteten) beweisen, daß späte Schwangerschaftsunterbrechungen ausschließlich auf das Konto des strikten Abtreibungsverbots gehen: Die verzweifelten Frauen müssen oft monatelang nach einer Lösung suchen.

Die Aktion 218 ist auch gegen die Einrichtung von Kommissionen, denen die schwangere Frau sich zu stellen hätte. Die Sinnlosigkeit solcher Verfahren hat sich in anderen Ländern bereits herausgestellt – sie treiben die Frauen erneut in den Untergrund. Außerdem: Wer soll für die Frau entscheiden? Nach welchen Kriterien? Und kraft welcher Kompetenz? Kommissionen und zeitliche Beschränkungen liefen erneut auf eine willkürliche, medizinisch durch nichts zu rechtfertigende Bevormundung der Frau hinaus. Zum zweiten Bundestreffen kamen insgesamt 96 Delegierte aus 20 Städten der Bundesrepublik und aus Westberlin. Es wurden an diesem Tag 2345 Selbstanzeigen von Frauen gezählt, 973 Selbstanzeigen von Männern (»Ich war Komplize«) und 86 100 Solidaritätserklärungen von Männern und Frauen. Insgesamt waren 22 Arbeitsgruppen der Aktion 218 vertreten. Zieht man davon die beiden von Anfang an in der Aktion arbeitenden sozialistischen Frauengruppen aus München und Berlin ab, so bleiben 13 Gruppen, die sich, angeregt durch die Aktion 218, nach dem ersten Appell konstituierten. Die 7 bereits existierenden Gruppen, die nach der Veröffentlichung des Appells in der Aktion aktiv wurden, sind: die Frauenaktion 70 und der Sozialistische Weiberrat aus Frankfurt, der Bonner Arbeitskreis Emanzipation, die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen aus Eschborn, die Rote Zelle Frauen aus Hannover, der Arbeitskreis Sozialistischer Frauen aus Marburg und die Fraueninitiative aus Aachen.

Die 13 spontan entstandenen Gruppen gehen, mit Ausnahme der Freiburger und Darmstädter Gruppen, auf die Initiative von Frauen zurück und werden auch in erster Linie oder ausschließlich von Frauen getragen, wobei die Skala von revolutionären über liberale und sozialdemokratische bis hin zu bislang unorganisierten Frauen reicht. Alle Gruppen sehen den § 218 in seinem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und als Faktor der frauenspezifischen Unterdrückung. Sie sind alle über die Abtreibungs-Kampagne hinaus aktiv oder wollen es noch werden.

4. Die Aktion 218 als Impuls für eine autonome Frauenbewegung

Wie weit kann die Aktion 218 Impulse geben für eine autonome Frauenbewegung? Als im Herbst 1968 die berüchtigte Tomate auf die SDS-Szene klatschte (Zeichen des Protests der sich unterdrückt fühlenden Frauen innerhalb des SDS), schien ein erster Schritt zu einer revolutionären Frauenbewegung in der Bundesrepublik getan. Der Schein trog. Die deutschen Frauen, wohlgeübt in honettem Streben nach ihren Rechten, nie und nimmer aber in der Revolte gegen den Mann, beließen es bei der Tomate. Was sich im Zuge der Studentenbewegung so hoffnungsvoll als Bewußtwerdungsprozeß der Frauen angekündigt hatte, wurde rasch und fraulich-bescheiden zum Annex der gemischten, von Männern dominierten revolutionären Gruppen. Während sich in Amerika, England, Frankreich, Holland, Dänemark und Schweden selbstbewußte Frauenbewegungen entwickelten, stagnierte die deutsche. Im Mai 1971 gab es nicht mehr als drei zahlenmäßig wichtige, das heißt zwischen 50 und 150 Militante zählende, revolutionäre Frauengruppen, nämlich den Sozialistischen Frauenbund Westberlin, die Sozialistische Emanzipationsgruppe München und den Weiberrat Frankfurt.

Bezeichnend für seine Entwicklung ist die Namensänderung des Frauenbundes. Die Berlinerinnen, die sich seit Mai 1968 als »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« verstanden hatten, benannten sich im Dezember 1970 um in »Sozialistischer Frauenbund Westberlin«. Das, so kommentierten sie ihren Entschluß, »drückt das veränderte Bewußtsein und Selbstverständnis aus, das aus der seit 1969 konsequent durchgeführten marxistischen Schulung resultiert.« Und: »Wir organisieren uns zunächst separat als Frauen, um in theoretischer Arbeit die Ansatzpunkte zur spezifischen Frauenagitation herauszufinden. Wir sehen dies als Voraussetzung, um unter Führung der Kommunistischen Partei unsere Aufgabe im Klassenkampf zu übernehmen.«

Zur gleichen Zeit erklärte im benachbarten Frankreich die nur wenige Monate junge, jedoch auf einer stattlichen feministischen Tradition fußende Frauenbewegung: »Der Klassenkampf löst nicht unbedingt auch die Probleme der Frauen.« Und die Geschichte gibt ihnen recht. In vielen sozialistischen Ländern (z. B. der UdSSR) ist die Frau weiterhin Opfer der Doppelbelastung in Beruf und Haushalt. In Kuba hat sich 1971 herausgestellt, daß die Frauen ihre soziale, politische und ökonomische Gleichstellung mit den Männern selber erkämpfen müssen (kürzlich erschien in französischer Sprache der Text der Kubanerin lsabel Larguia: Gegen die unsichtbare Arbeit), und in Algerien verbieten Väter ihren Töchtern heute wieder den Schulbesuch. Das Patriarchat ist in seiner heutigen Gestalt nicht nur ein Produkt des Kapitalismus. Es existierte lange vor ihm und war die erste Form der Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere Gruppe, der Unterdrückung der Frauen durch die Männer.

Die Situation in den revolutionären Gruppen aller westlichen Länder offenbart die Ignoranz der männlichen Revolutionäre gegenüber den Frauen. Die Unterdrückung bolivianischer Bauern interessiert sie mehr als die der eigenen Frau. Clara Zetkin zitiert Lenin in ihren Erinnerungen: »Unter unseren Genossen sind immer noch viele, von denen man leider sagen muß: >Kratzt ein wenig am Kommunisten und ihr werdet den Philister finden<.[. . .] Und gibt es einen besseren Beweis als die Tatsache, daß die Männer seelenruhig zusehen, wie die Frauen sich mit der monotonen Arbeit abarbeiten? Wenige Ehemänner, auch unter den Proletariern, denken daran, das Leid und die Sorgen ihrer Frauen fühlbar zu erleichtern, oder es ihnen sogar ganz abzunehmen, indem sie ihnen bei der >Frauenarbeit< helfen.« Warum sollten sie auch? Sie profitieren schließlich von dieser Situation, wenn auch nur scheinbar. Denn Männer revoltieren nicht am Arbeitsplatz, weil da immer noch einer unter ihnen steht: die Frau. Männer lehnen sich nicht auf gegen ihre Unterdrücker, weil sie zu Hause ihren ganz privaten Untergebenen haben: die Frau. Männer können sich mit den kapitalistischen Mindestlöhnen nur deshalb abspeise lassen, weil die gesamte Hausarbeit gratis geleistet wird: von der Frau.

In den Frauenbewegungen des Auslandes spielen neben den Klassenkämpferinnen die Feministinnen eine erhebliche Rolle. Ihr Einfluß auf die Bewegungen war entscheidend; ihm ist es zu danken, daß Frauen begannen, sich auf sich selbst zu besinnen – und sich dabei ihres Legitimationszwanges gegenüber der männlichen Linken bewußt wurden. Heute sind die Frauenbewegungen des Auslands auf der Suche nach einer neuen Identität. Sie liefern Analysen der frauenspezifischen Unterdrückung und finden neue Ausdrucksformen. Es gelang ihnen, das der Unterdrückung proletarischer und bürgerlicher Frauen Gemeinsame aufzudecken. Sie sprechen nicht mehr im Klassenkampf – Vokabular, sondern in einer allen Frauen verständlichen Sprache – und kommunizieren so auch mit der bisher unerreichbar gebliebenen Arbeiterfrau. Ein Beispiel dafür lieferte die Zusammenarbeit der bislang überwiegend bürgerlichen Pariser Frauenbewegung mit Arbeiterinnen in Troyes während des ersten wilden Frauenstreiks seit Jahrzehnten in Frankreich im April 1971.

In der Bundesrepublik könnte die Aktion 218, in der Frauen aus allen Schichten die gemeinsam erfahrene Unterdrückung bloßlegen, den entscheidenden Anstoß geben. Für die existierenden Frauengruppen war die Aktion ein erster Anlaß zur Kontaktaufnahme, und für die revolutionären Gruppen bedeutet sie erste praktische Arbeit nach jahrelanger theoretischer Isolation. Welche Impulse die Aktion 218 diesen Gruppen gegeben hat, geht aus dem Text der Münchner Sozialistischen Arbeitsgruppe zur Befreiung der Frau (Seite 117 ff.) hervor.

Befreien kann man sich immer nur selbst, das heißt, gemeinsam mit den Mitbetroffenen, in diesem Fall den Frauen. Das ist eine Banalität. Nur in dieser Gemeinsamkeit können Frauen ihre Unterdrückung als eine frauenspezifische erkennen und in der Auseinandersetzung mit ihrem Unterdrücker zum Machtfaktor werden. Auch die Befreiung der Frauen kommt nicht »von oben«, kommt nicht von den Männern. Wir Frauen müssen sie selbst in die Hand nehmen. Die Aktion 218 ist dazu ein Ansatz.

(Quelle: Frauen gegen den Paragraph 218. 18 Protokolle, aufgezeichnet von Alice Schwarzer. edition suhrkamp, 1972, S. 133-156)

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