Phyllis Chesler, 1974
„Warum erzählen uns unsere Mutter und Großmütter nicht, welche Schlacht das war, die wir verloren oder nie geschlagen haben? Dann hätten wir begriffen, wie vollkommen unsere Niederlage ist, und daß Religiosität und Wahnsinn und Frigidität die Antwort unserer Trauer ist.“ (Phyllis Chesler). – Wahnsinn als Verweigerung der Frauenrolle. Psychotherapie und Psychiatrie als letzte und infernale Stationen zur Versklavung ausbrechender Frauen. Mehr noch: Schon die sogenannten „wissenschaftlichen Kriterien“ für Wahnsinn sind geschlechtsspezifisch. Lebten wir in einem Matriarchat, würde vielleicht eine matriachalisch geprägte Psychologie Vaginaneid und Vaterinstinkt propagieren, ehrgeizige Männer wären verrückt und passive Frauen reif für den Psychotherapeuten. Phyllis Cheslers Buch war und ist für engagierte Psychologinnen, Analytikerinnen und Psychiaterinnen in der BRD ein entscheidender Anstoß.
Warum sind Frauen seelisch „gestört“, und warum werden sie in Anstalten eingewiesen? Warum begeben sich Frauen in psychotherapeutische Behandlung? Wie äußern sich „Schizophrenie“ oder andere Geisteskrankheiten bei den heutigen Frauen, und welche Ursachen haben sie? Zwei Wissenschaftler haben vor kurzem erklärt, daß Männer in gleichem Maß „psychisch gestört“ seien wie Frauen: „Da nun Männer ein Übermaß an Persönlichkeitsstörung aufweisen, wohingegen Frauen relativ hohe Neuroseraten haben und keines der beiden Geschlechter eine allgemein höhere psychologische Störungsrate zeigt, bedeuten diese Unterschiede bei den Geschlechtern nicht, daß auf das eine oder andere Geschlecht ein höheres Maß an sozialem Druck einwirkt. Eher besagen sie, daß jedes Geschlecht dazu neigt, eine andere Art zu erlernen, mit der es auf die möglichen Faktoren reagiert, die psychologische Störungen hervorrufen.“ (Bruce und Barbara Dohrenwend).
Ich will dieser Feststellung nicht direkt widersprechen, sondern sie vielmehr nur weitgehend relativieren. Viele Männer sind tatsächlich schwer „gestört“ – aber die Art, wie sich ihre „Störung“ äußert, wird weder als „neurotisch“ angesehen noch durch psychiatrische Internierung behandelt. Theoretisch haben alle Männer, besonders aber die weißen, reichen und älteren Männer, mehr Möglichkeiten, viele ihrer „gestörten“ (und nicht „gestörten“) Triebe auszuleben als die Frauen. Männern wird ganz allgemein eine größere Skala „akzeptabler“ Verhaltensweisen zugestanden als Frauen. Psychiatrische Hospitalisierung, Etikettierung umfassen alle jene Verhaltensweisen, die von der Gesellschaft als „inakzeptabel“ angesehen werden. Da Frauen weniger akzeptable Verhaltensweisen zugebilligt bekommen und sie durch das weibliche Rollenstereotyp stärker eingeengt sind, ist es klar, daß sie mehr Verhaltensweisen zeigen, die als „krank“ oder „inakzeptabel“ gelten.
Untersuchungen über Verhaltensstörungen im Kindesalter haben ergeben, daß Jungen am häufigsten wegen aggressiven, destruktiven (antisozialen) und rivalisierenden Verhaltens zu Erziehungsberatungsstellen gebracht werden, Mädchen aber (falls überhaupt) wegen Persönlichkeitsstörungen wie übermäßige Angst und Unruhe, Scheu, Schüchternheit, Mangel an Selbstvertrauen und Minderwertigkeitsgefühlen.
Ähnliche geschlechtsspezifische Symptome existieren auch bei Erwachsenen:
Die meisten Patientinnen weisen geschlechtsspezifische Symptome wie Depressionen, Frigidität, Paranoia, Neurosen, Suizidversuche und Angst auf. Männliche Patienten neigen mehr zu „männlichen Krankheiten“ wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, psychopathische Störungen und hirnorganische Erkrankungen. Den typisch weiblichen Symptomen ist die „Furcht vor dem Glück“ gemeinsam, ein Ausdruck, den Thomas Szasz geprägt hat, um die „indirekte Form der Kommunikation“ zu beschreiben, die die „Sklavenpsychologie“ kennzeichnet.
Wenngleich viele Kliniker ihre männlichen Patienten für „verrückt“ halten, ihre Patientinnen halten sie für noch „verrückter“. Für die seelische Gesundheit und Behandlung von schwarz und weiß, arm und reich, und natürlich auch von Frau und Mann gibt es unterschiedliche Maßstäbe. Aus einer neueren Untersuchung von Dr. Inge K. Broverman et al. geht hervor, wie stark die Einstellung der heutigen Kliniker zu ihren Patientinnen immer noch von Freud beeinflußt ist – und wie zäh an einem „Doppelstandard“ seelischer Gesundheit festgehalten wird. 79 Kliniker (46 männliche und 33 weibliche Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter) füllten Fragebogen über Geschlechtsrollenstereotypen aus. Der Fragebogen umfaßte 122 gegensätzliche Begriffspaare wie beispielsweise: sehr subjektiv / sehr objektiv, überhaupt nicht aggressiv / sehr aggressiv.
Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, jene Eigenschaften anzukreuzen, die für sie gesundes männliches, gesundes weibliches oder gesundes menschliches (geschlechtsunspezifisches) Verhalten repräsentierten. Dabei ergab sich folgendes:
1. Unter den Klinikern herrschte ein hoher Grad an Übereinstimmung in den Attributen, die gesunde erwachsene Männer, gesunde erwachsene Frauen und gesunde Erwachsene ohne Geschlechtsspezifizierung kennzeichnen.
2. Es gab keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Versuchspersonen.
3. Alle Kliniker gingen von verschiedenen Gesundheitsbegriffen für Männer und Frauen aus. Ihre Vorstellungen vom gesunden erwachsenen Mann wichen nicht signifikant von ihren Vorstellungen vom gesunden Erwachsenen im allgemeinen ab, aber ihre Vorstellungen von der gesunden Frau unterschieden sich signifikant von den beiden übrigen Kategorien. Sie vertraten überwiegend die Ansicht, gesunde Frauen neigten im Gegensatz zu gesunden Männern zu Unterordnung, seien weniger unabhängig, weniger abenteuerlustig, leichter zu beeinflussen, weniger aggressiv, weniger dem Konkurrenzkampf zugeneigt, leichter erregbar bei kleineren Krisen, leichter gekränkt, emotionaler, eitler in bezug auf ihr Aussehen, weniger objektiv und weniger an Mathematik und Naturwissenschaft interessiert.
Daraus folgt, daß sich eine Frau, um als gesund zu gelten, an die Verhaltensnormen für ihr Geschlecht „anpassen“ und diese akzeptieren muß, obwohl diese Verhaltensweisen im allgemeinen als weniger gesellschaftlich erwünscht angesehen werden. Wie die Verfasser selbst bemerken, sei „diese Konstellation . . . eine äußerst ungewöhnliche Art, einen gesunden, erwachsenen Menschen zu definieren“.
(Auszug in: Schwesternlust & Schwesternfrust – 20 Jahre Frauenbewegung. EMMA Sonderband, Oktober 1991, S. 86.)